Die Schneekönigin Rezension – Weihnachtsmärchen von Kindern selbst gespielt
Frei von jeder Kindertümelei
Julia Gläser hat in Norwegen gelernt, folglich durchzieht sie ihr Tanztheaterstück mit finnischer, samischer und norwegischer Musik, zu der sie es schafft, 32 Kinder zwischen sechs und 16 Jahren so zu motivieren, dass sie sich über eine Stunde lang im freien Ausdruckstanz bewegen. Ohne Anweisungen, ohne einen vor der Bühne stehenden Dirigenten, ohne mehr Hilfe als die Musik und den Erzähler aus dem Off, spielen die Kinder frei und überzeugend eins der schönsten Märchen der Weltliteratur.
Eine Kinderliebe
Am Anfang steht eine Kinderliebe in einer winterlichen Stadtwohnung, man fühlt sich an Astrids Lindgren erinnert, der Blick schweift über die Dächer einer kleinen Stadt. Kai und Gerda sitzen versunken, lesen sich Geschichten vor, spielen miteinander und all das wird getanzt, in unmerklich kleinen, wunderschönen Bewegungssequenzen, die von den Händen ausgehen. Dann gehen sie raus Schlittschuh fahren, es folgt eine Gruppenszene mit schlittenfahrenden Kindern, die Choreographie ist überaus gelungen. Dort kommt plötzlich Kälte auf, Nebel umhüllt alles und die Schneekönigin tritt auf, sie hat ein Gefolge aus den kleinsten Kindern, die sie wie Schneeflocken trippelnd umtanzen. Die Schneekönigin tanzt kalt, unnahbar, doch wichtig, nicht angstmachend, so dass dieses Stück auch für sehr kleine Kinder geeignet ist. Sie berührt aber den Kai und der lässt sich erst nicht mehr bewegen, schubst dann alle fort, auch Gerda.
Nicht angsterregend
Auch hier ist die Szene nicht angsterregend, das Schubsen, den trotzigen Gesichtsausdruck, das kennen die Kinder, ein Kind lässt niemanden mehr an sich heran, es ist vielleicht traurig, es hat was, es ist nicht böse. Gerda lässt sich nicht beirren, sie sucht ihn, sie folgt einem Fluss und kommt in ein Frühlingsland mit Blumen, später in ein Räuberland, wo sie gefangen genommen wird. Doch das Räuberkind befreit sie, die Kinder lassen gemeinsam Tiere frei, mit dem Rentier zieht Gerda weiter. Im Hintergrund Eislandschaft, der Tanz des Rentiers in einzigartiger Choreographie, versinnbildlicht Stärke, Mut und Kraft. Julia Gläser ist erst 26 Jahre alt, aber sie hat sich in Stralsund bereits einen Namen gemacht, zusammen mit Dörte Bähr hat sie bereits das zweite Tanztheaterstück dieser Art in Stralsund aufgeführt, wo Kinder eine Geschichte nur mit Hilfe ihrer eigenen fließenden Körperbewegungen erzählen.
Ernste und wahrhafte Gefühle gestalten
Passend zur Musik, passend zu den Gefühlen, die in der Geschichte deutlich werden, schaffen die Kinder ernste und wahrhafte Gefühle zu gestalten. Gerda erreicht das Land der Eiskönigin, sie findet Kai dort in einer Ecke, einen mathematischen Würfel betrachtend, den er selbstvergessen und sehr verloren vor seinen Augen dreht. Ein Sinnbild der Mediengesellschaft, in der unsere Kinder versinken? Sie befreit ihn, indem sie seine Hände nimmt und zum gemeinsamen Handspiel führt, das Kinderpaar findet sich zusammen im Tanz des Wiedererwachens und Wiedererkennens. Das Herz von Kai beginnt durch seine zwei übereinandergelegten Hände hindurch zu schlagen, als gestehe er ihr seine Liebe, erst langsam, dann regelmäßiger, dann schneller, die Kinder laufen an den Händen durch alle Welten zurück, die Gerda vorher allein durchschritt, sie danken ihren Helfern, alle vereinigen sich im großen Wiederfindenstanz, die Kinder werden zu einem gemeinsamen choreographischen Ausdruck geführt, symbolisieren Glück, Liebe, Frieden.
Nicht mehr kalt
Die Schneekönigin steht am Rand, sie wird nicht verdammt, ein wenig Wärme strahlt auch auf sie ab, sie ist nicht mehr kalt. Ein wahrhaft schönes Stück, ein Kunstwerk, kein Weihnachtsmärchen im üblichen Sinne, kein kindertümelndes Kitschmärchen, nichts Dergleichen, ein großartiges Gesamtwerk, in dem Kindern Erwachsenen etwas mitzuteilen haben, nämlich, wie man die Kälte den Menschen aus den Herzen bringt, Trotz ist nicht böse, kann nicht mit Bosheit, mit Härte bekämpft werden, es geht nur mit Liebe, diese muss gesucht, erobert und gefunden werden und dann das wartende Herz erreichen, großartig und nachahmenswert! Geschaffen von Julia Gläser und Dörte Bähr mit 32 Kindern von Tanzkursen des modernen Tanztheaters perform(d)ance, bei dem die beiden als Honorardozentinnen arbeiten. Beide führten im letzten Jahr die Regentrude auf, auch damals haben 20 Kinder über eine Stunde eindrucksvollen Ausdruckstanz gezeigt und damit ein ganzes Märchen erzählt.
Julia Gläser und Dörte Bähr – weibliche Simon Rattle?
Beide Dozentinnen sind hochqualifiziert, Dörte Bähr, Folkwangabsolventin, macht schon seit Längerem Tanztheater an Schulen und Tanztheaterkurse aller Alterstufen, Julia Gläser, seit zwei Jahren in unserer Stadt, hat im Sommer mit nur sechs Jugendlichen zwischen 14 und 16 Jahren ein abendfüllendes Stück aus zeitgenössischer Musik und argentinischem Tango über die Liebe und ihre ganz eigene Dramatik inszeniert. Die geborene Greifswalderin hat erst 2004 am Stavanger University College in Norwegen ihren Bachelor in Tanzpädagogik abgelegt und arbeitet seither ununterbrochen in verschiedenen Tanzproduktionen mit Kindern und Jugendlichen. Sie hat mit ihrem Freund eine eigene Tanz-Produktionsfirma, AMIjul, gegründet und hat noch viel vor. Die beiden Dozentinnen haben mit den Kindern zusammen alles selbst ausgedacht, zusammengesammelt und geschneidert, die Kostüme, die Requisiten, nur die Bilder im Hintergrund hat ein Graphiker ausgesucht und das Kleid und den Kopfschmuck der Königin kamen vom Theater. Das gehört dazu, sagen sie, für die Kinder ist es ihr Stück, sie identifizieren sich damit. Ein Weihnachtsmärchen von Kindern für Erwachsene, damit wir lernen menschlicher zu handeln, hoffentlich kein vergeblicher Appell.
Schöne Bilder unter: www.performdance.de und www. flickr.com/fotos/34799014@NO4/sets/72157614