Der Vater – Rezension am Renaissance-Theater Berlin
Das Berliner Renaissance-Theater ist vorteilhaft gealtert mit seinen goldenen Wandstoffen und schmiedeeisernen Jugendstilornamenten. Die Farben sind mit den Jahrzehnten dumpfer geworden, die Verstaubtheit hat Charme. Auf den mit altrosa Samt bespannten Stühlen sind kleinere Zuschauergruppen schon lange vor Beginn des Stücks in Unterhaltungen vertieft. Man hat hier wenig Beinfreiheit, dafür sehr gute Sicht von allen Plätzen. An diesem alten, bürgerlichen Theater mit Publikum vom Kudamm und aus Steglitz hatte im Oktober ein Stück des französischen Erfolgsdramatikers Florian Zeller Premiere: »Der Vater«. Es geht darin um Alzheimer. Die tolle Vorlage ist außerordentlich gut inszeniert (Regie: Guntbert Warns).
Gewöhnlich schaut man in Stücken zum Thema dem Verfall des Gedächtnisses einer Figur von außen zu, aus der Perspektive von Angehörigen oder Pflegern. Hier ist es, als säße man im Hirn des Betroffenen, als »wandelten wir in seinen Schuhen«, wie ein indianisches Sprichwort sagt. Szene für Szene zerbröselt die Realität auch für den Zuschauer, und das verwirrt eben nicht nur den Kranken. Widersprüche werden nicht aufgelöst. Man erfährt nicht, warum plötzlich eine andere Tochter hereinplatzt mit einem Huhn und einem anderen Mann; warum diese Tochter auf einmal abstreitet, nach London ziehen zu wollen und behauptet, in Paris zu leben. Die Titelfigur (Walter Kreye) sitzt die meiste Zeit auf einem weißen Stuhl. Die Verwandten gehen an ihm vorbei von links nach rechts oder im Raum umher. Er schaut zunehmend verwirrt hinterher. Mehrmals fragt er die Tochter, deren widersprüchliche Informationen er nicht verarbeiten kann, ob etwas mit ihrem Gedächtnis nicht stimme. Das entbehrt nicht der Komik. Gleichzeitig erweist er sich als äußerst charmant, und immer mal wieder macht er einen völlig normalen Eindruck. Als eine Krankenschwester auftaucht, entlarvt er köstlich deren »Krankenschwesternsprache«.
Dem Publikum die Realität zerhackt
Wir sehen und hören, was der Alzheimer-Kranke sieht und hört: Leute, die reinkommen, sich als Verwandte vorstellen und eben noch völlig anders aussahen. Was soll der gute Mann mit dem Gatten einer Tochter anfangen, die in der vorherigen Szene von ihrer Trennung berichtet hat? Kleine Beleidigungen genervter Schwiegersöhne wirken nach, wiederholen sich bis in Träume hinein. Erst spät kann man rückschließen, dass die Lieblingstochter vor langer Zeit verunglückte. Weil dem Publikum die Realität zerhackt wurde, gelingen Empathie und eine Annäherung an die Wahrheit von Alzheimer-Patienten.
Glänzend besetzt
Die Hauptrollen sind mit Wolfgang Kreye und Anna Thalbach glänzend besetzt. Die beiden großen Charakterdarsteller wirken authentisch und temperamentvoll, die Dialoge kommen passgenau, die Gefühle sind nachvollziehbar. Das ist witzig, traurig, weder manieriert noch prätentiös und keine Minute langweilig. Dazu die wunderbar auf Weiß reduzierte Bühne (Momme Röhrbein). Man fühlt Leere, Verschwinden, Farblosigkeit. Weiße Wände, weiße Stühle, ein weißer Tisch. Die Einrichtung wird von Szene zu Szene karger. Erst ist da noch eine Reihe von Stühlen, die zwar leer, aber immerhin noch vorhanden sind, bald ist da nur noch der weiße Stuhl, auf dem der Vater sitzt. Am Ende wird die Szenerie in bläuliches Licht getaucht, was an Dauerüberwachung im Krankenhaus erinnert. Dazu wird ein Bett reingeschoben, in das er hineinkriecht.
Für Alzheimer-Patienten gerät die Welt aus den Fugen. Dass sie ihre Angehörigen als falsch und fremd erleben, vergrößert Angst und Einsamkeit, besonders, wenn diese Nachhilfe in Logik erteilen. Nachzuempfinden, wie sich die Realität für solche Menschen verschiebt, ermöglicht es, anders auf sie einzugehen. Glänzend inszeniert und gespielt, lehrreich, mit Humor.